Und sehen wir uns nicht in dieser Welt, dann sehen wir uns in Bitterfeld: Rätselhafte DDR zwischen Utopie und Alltag. Dieses Biotop der großen Träume und kleinen Räume machten zwei Monopolisten unter sich aus. Da waren die Parteibürokraten, die dem Sozialismus seine reale Existenz abrangen, und dort die Intellektuellen, die Künstler, Schriftsteller, Musiker und Theatermacher, die dessen utopischen Mehrwert verwalteten. Elite und Gegenelite: Ihr Widerstreit bescherte den autoritären Herrschaftsstrukturen der einen eine visionäre Patina, den anderen Machtteilhabe und Privilegien. Am 4. November 1989 traf sich das eingespielte Doppel zum letzten Mal vor 200.000 Menschen auf dem Alexanderplatz, und die Wolfs, Heyms, Schabowskis und Gysis hatten nur noch Utopie anzubieten, keinen Alltag mehr. Spätestens da ging die Überlebensformel der DDR nicht mehr auf. 40 Jahre DDR mussten vergehen bis zu ihrem finalen Burn-Out, 150 Seiten dauert es in Das Kollektiv bin ich. Utopie und Alltag in der DDR, dem Buch zur gleichnamigen Ausstellung in Eisenhüttenstadt, bis zu Michael Bries erfrischendem Essay über die "amour fou" zwischen Kulturschickeria und Politbüro. Er setzt den einzigen Kontrapunkt zu einem naiven und bisweilen larmoyanten Utopie-Romantizismus, der sich durch die Schilderungen sämtlicher der versammelten "aufrechten" DDR-Biografien zieht. Die Dramaturgie, sei es im Fall der Schriftstellerin Brigitte Reimann oder dem des Parteikaders Frank Donitzky, funktioniert nach dem gleichen Stereotyp: Der Euphorie der Anfangsjahre folgte die baldige Ernüchterung, die aber nicht in Dissidenz und Übersiedlung mündete, sondern in einem trotzigen Festhalten am sozialistischen Projekt und in innerer Emigration -- die Idee war ja gut, nur die staatssozialistische Umsetzung mangelhaft. So bildet diese Aneinanderreihung ausgewählter Musterviten im Namen der "wahren" sozialistischen Lehre lediglich ein Stück "Aufbauliteratur", das die Utopie gegenüber der feindseligen Realität rehabilitiert und in einem weiteren Schritt ihre wiedergewonnene Freiheit feiert. Ob es jedoch im Sinne einer Utopie ist, unter Naturschutz gestellt zu werden, bleibt fraglich -- das Klima nämlich wird man sich nie aussuchen können. --Mark Stöhr Quelle:
|