Die Vorträge des "begnadeten und begnadenden Arztes" erfüllten jeden mit dem "edlen Zauber seiner Diktion und seines Aussehens" – Wenn das nicht das hingebungsvollste Onkeloratorium ist! Die Rede ist von "Onkel Sigi", zu dessen 150. Geburtstag die Verlage erwartungsgemäß sämtliche Schleusentore öffnen. Lange galten sie als verschollen, die Erinnerungen Lilly Freud-Marlés; bis der Freud-Spezialist und Herausgeber dieses Bandes, Christfried Tögel, 2003 bei Recherchen in der Library of Congress in Washington überraschend auf das Typoskript der Tochter von Freuds Schwester Maria stieß. Eine biografische Sensation? Wohl weniger. Eher eine gewaltige Schwärmerei für den berühmten Verwandten, dessen menschliche Qualitäten die Autorin gar nicht genug würdigen kann. "Das Buch, das kurz vor seinem Abschluss steht, enthält auch sehr sehr viel Zeitkolorit", schrieb die Schauspielerin und Rezitatorin im April 1947 einem befreundeten Verleger. Dies trifft es! Die "Vertreterin internationaler Poesie und Prosa auf den Podien des Kontinents" versteht sich weniger auf den geschärften Historikerblick, denn auf das Aufsaugen und Wiedergeben von Stimmungsbildern aus dem innern Kern des Freud-Clans. Im weihevoll deklamatorischen Ton, der selbst in den 40er-Jahren bereits reichlich zinnern geklungen haben dürfte, werden wir noch einmal an die Tafel in der Wiener Berggasse gebeten, erhalten eine detaillierte Beschreibung vom berühmten Arbeitszimmer (nichts über die Arbeitsweise seines Bewohners), und erleben von Lilly im Foto festgehaltene Freudsche Sommerfrischen. Ein Idyll, das sich vorwiegend dem Blick einer Liebenden verdankt. 1939, im Todesjahr Sigmund Freuds und noch auf dessen Betreiben hin, konnten Lilly und ihr Ehemann, der Theaterleiter Arnold Marlé, nach London emigrieren. Sechzig Jahre nach der Niederschrift von Lillys Eloge an ihre Überfigur darf der Leser nun noch einmal die Luft um den Vater der Psychoanalyse schnuppern, stark gefiltert und parfümiert, allerdings. Wer als kantigeres Gegenmodell den etwas weniger familienfreundlichen Patriarchen kennenlernen möchte, sollte Eva Weissweilers Die Freuds vorziehen. Dennoch werden die liebevoll blumigen und rein privaten Erinnerungen der 1970 verstorbenen ersten Freud-Biografin – gerade aufgrund ihres intimen Blickwinkels nicht wenige Freunde finden. –Ravi Unger Quelle:
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