An einem späten Freitag des Jahres 1990 sitzen fünf amerikanische College-Absolventen am Tisch des Café Gerbeaud und spielen das Wahrheitsspiel. Jeder von ihnen darf eine Feststellung treffen, die falsch sein kann; nur einer von vier Sätzen ist tatsächlich richtig. Gewonnen hat derjenige Spieler, dessen wahre Aussage im Meer der Lügen von möglichst wenigen Mitspielern erraten wird. Die Behauptung, dass Arthur Phillips' Romandebüt Prag gar nicht in der tschechischen Hauptstadt spiele, hätte in diesem Kreis große Aussicht auf Erfolg gehabt. Denn der Satz ist, so seltsam dies scheinen mag, uneingeschränkt wahr. Prag nämlich spielt in Budapest, in jenem Schwebezustand nach der "Verpuffung" des Kommunismus, der viele Amerikaner auf der Suche nach einer neuen Boheme in die ungarische Metropole gelockt hat; und die fünf Gestalten am Kaffeehaustisch sind ebenfalls solche, deren Lebensmittelpunkt sich zwischen Wahrheit und Illusion erst noch finden muss. Der Kanadier Mark Paynton zum Beispiel, der der Geschichte der Nostalgie und ihrer Gesetze nachzuforschen trachtet. Oder Scott Price aus Kalifornien, der vor sich selbst zu fliehen sucht. Auch der Geschäftsmann Charles Gabor ist auf der Flucht vor den Ansprüchen seines Elternhauses, die er aber gerade durch sein Handeln erfüllt, während die Botschaftsangestellte Emily Oliver beim umgekehrten Wunsch, den Eltern gerecht zu werden, scheitert. Der Fünfte im Bunde ist John Price, der die Liebe seines älteren Bruders Scott und die Emilys zu erlangen sucht. Ans Ziel ihrer Träume, das in Prag zu lauern scheint -- auch das ein gelungener Einfall von Phillips mit fast schon Tschechow'schen Ausmaßen -- kommen die Helden bis zum Ende des Buches nicht. Prag heißt Arthur Phillips' grandioser Erstling vor allem auch, weil seine Wahrheitssucher am Kaffeehaustisch vermuten, dass dort (und nicht in Budapest) das eigentliche Leben tobe. Diese Vermutung aber scheint unbedingt falsch zu sein. Denn sonst hätte Phillips wohl kaum einen derart lebendigen, sprachgewaltigen und rundherum gelungenen Roman über eine Gruppe von Fremden in einer Gesellschaft schreiben können, die selbst auf der Suche nach ihrer Identität zwischen Tradition und Mac Donald's ist. --Thomas Köster Quelle:
|