Verschwundene Phänomene üben einen ganz besonderen Reiz auf die Menschen aus. Eine solche Ausnahmeerscheinung stellen die Katharer dar: jene religiöse Bewegung innerhalb des abendländischen Christentums, die sich zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert vornehmlich im heutigen Languedoc ausbreitete. Aufgrund ihrer dualistischen Weltanschauung -- in Fortsetzung des Manichäismus und Bogomilismus -- als Häresie gebrandmarkt und vernichtet, sind wir nur aus der Perspektive ihrer Gegner unterrichtet. Am Anfang der Beschäftigung mit dem Katharertum im deutschsprachigen Raum steht Arno Borst. In Folge waren die Katharer meist Teilgegenstand übergreifender Darstellungen zum Thema Häresie/Ketzertum im Mittelalter (Fichtenau, Lambert), bis ihnen seit den 80er-Jahren umfassende Monografien (Lambert) auf dem neuesten Forschungsstand gewidmet wurden. Doch anders als die eben genannten Titel handelt es sich bei dem hier in Neuauflage vorliegenden Band von Lothar Baier Die große Ketzerei nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung -- wenn auch knappste Anmerkungen sowie Quellen- und Literaturhinweise nicht fehlen -- sondern eine erzählte Geschichte von Glauben, Leben und Sterben der Katharer. Baier beginnt mit Namens- und Begriffsklärungen zu Häresie und Katharern und konzentriert sich dann auf den Verlauf der Ereignisse; Lehre, Glauben und Gemeindestrukturen werden dabei ebenso en passant geschildert wie die Anfänge der Inquisition, die ihre Professionalisierung gerade der Bekämpfung des Katharertums verdankt. Gut herausgearbeitet und pointiert beschrieben sind die machtpolitischen Hintergründe der Ausbreitung, Duldung und Unterstützung der Bewegung durch den regionalen Adel, deren Konsequenz in Konzilsbeschlüssen, kriegerischen Auseinandersetzungen, Vertreibung und Verfolgung nicht nur der Katharer mündeten. Mit Spannung liest man diese Passagen und wünschte, man könnte das Buch befriedigt zur Seite legen, wären da nicht die teils unangemessenen Formulierungen und die unglückliche, in ihrer Kürze missverständliche und teils unkorrekte Überblicksdarstellung der politischen und kirchengeschichtlichen Entwicklungen des 11. Jahrhunderts. Die an sich hoch interessante Spurensuche im Kapitel "Vom Nachleben der Katharer" wird beeinträchtigt durch ungerechtfertigte und konstruierte Parallelen zwischen der Verfolgung der Katharer und dem Umgang neuzeitlicher Herrscher mit Minderheiten. Positiv hervorzuheben sind die zahlreichen Quellenzitate in deutscher Übersetzung, die ein zeitgenössisches Panorama vor dem Leser entfalten. --Osseline Kind Quelle:
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